Igor‘ Stravinskijs Theater der Zukunft

Der Sacre du printemps gilt als Meilenstein der Musik- und Tanzgeschichte: Igor Stravinskijs Partitur wird als Schlüsselwerk der Sinfonik des 20. Jahrhunderts gesehen, Vaclav Nižinskijs Choreografie als eines der wichtigsten Werke der Tanzhistoriografie, und die Uraufführung durch die Ballets Russes des russischen Impresario Sergej Djagilev im Théâtre des Champs-Élysées in Paris 1913 als „vielleicht größter Theaterskandal des 20. Jahrhunderts“ (Gabriele Brandstetter). 

Die Musik- und Tanzwissenschaftlerin Leila Zickgraf zeigt in ihrer Dissertation Igor Stravinskijs Theater der Zukunft: Das Choreodrama Le Sacre du printemps im Spiegel der ‚Theaterreform um 1900‘ erstmals, dass dieses Jahrhundertwerk ohne zuletzt genannte Theaterreform nicht vollständig verstanden werden kann: Stravinskij verwirklichte mit jenem Choreodrama sein höchst eigenes ‚Theater der Zukunft‘ – gemeinsam mit dem Choreografen Vaclav Nižinskij und inspiriert von Georg Fuchs sowie Edward Gordon Craig. Durch die Rhythmen seiner Komposition versetzte er nämlich Tänzer wie Publikum in einen körperlich erfahrbaren Rausch, wodurch er die Zuschauer ins Bühnengeschehen integrierte. Die Ballets Russes nahmen damals – 1913 – eine mechanistische Ästhetik vorweg, die in Musik, Tanz und Theater merklich erst in den 1920er Jahren in Erscheinung treten sollte. Mit seiner interdisziplinären Ausrichtung zwischen Tanz-, Kultur-, Theater- und Musikwissenschaft sowie seiner umfassenden, auch russischsprachigen Quellenerschließung leistet das Buch einen wichtigen Forschungsbeitrag zu einem nicht wenig untersuchten, aber – wie sich zeigt – in zentralen Aspekten noch immer ungenügend ausgeleuchteten Meisterwerk.

Leila Zickgraf conducts the first-ever analysis of Igor Stravinsky’s Sacre du printemps in relation to the ,theater reform around 1900‘, thus making an important contribution to research on this well-researched masterpiece, key aspects of which have — as she shows — nonetheless yet to be illuminated. Through her interdisciplinary approach and the extensive examination of source material, she shows how Stravinsky used the rhythms of his composition to work the dancers and the audience into a physically tangible frenzy, thus integrating the latter into the events on stage.

Rezension: Inniger, Jonathan: Wegweisende (Neu-)Kontextualisierung, in: Schweizer Musikzeitung 3/24 (2021), S. 17f.

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